Christo in Stralsund? 700 Jahre alte Geschichte verhüllt
Es ist nicht zu übersehen: Das Stralsunder Rathaus ist teilweise verhüllt. Zu hören war das in den letzten Tagen auch, wenn der Wind ordentlich durch die Planen geweht hat. Warum ist die Seite zur Ossenreyerstraße verhüllt?
Gegenwärtig finden an der Westfassade kleinere Reparaturen an den Fenstern und dem Mauerwerk sowie restauratorische Arbeiten am Portal mit seinem Schwedenwappen statt.
Was steckt hinter dem Gerüst, was hinter den Mauern?
Diese Fragen stellte sich Lars Drewes. Er absolviert zur Zeit ein Jahr bei der Jugendbauhütte Stralsund. Er beschäftigte sich mit der 700-jährigen Geschichte des Rathauses, stöberte im Archiv in alten Unterlagen und in den Akten der Denkmalpflege.
Herausgekommen ist ein kleiner Überblick zum Nachlesen - so dass jede und jeder weiß - wenn sie am schönsten Rathaus Norddeutschlands vorbeigehen - was sich dahinter verbirgt.
Das Stralsunder Rathaus
Vor wenigen Tagen wurde in Mecklenburg-Vorpommern ein Jubiläum begangen: 30 Jahre Städtebauförderung. Die Erfolgsgeschichte dieser Förderungen ist unseren Städten überall anzusehen. Eines der herausragenden denkmalgeschützten Gebäude Stralsunds, deren notwendige Sanierung aus diesem Fördertopf bestritten wurde, ist das Rathaus. In insgesamt zehn Bauabschnitten wurde dieses geschichtsträchtige Kleinod der norddeutschen Backsteingotik mit viel Engagement seitens der Stadterneuerungsgesellschaft (SES GmbH) als Sanierungsträger der Stadt, der Planer sowie der Handwerksbetriebe statisch ertüchtigt, denkmalgerecht saniert und schonend modernisiert.
Der Kern Stralsunds
Das Stralsunder Rathaus ist aufgrund seiner historischen Bedeutung und seiner außergewöhnlichen Bauweise eines der wichtigsten Gebäude in Stralsund und dem gesamten Ostseeraum. Gemeinsam mit der angrenzenden St. Nikolaikirche dominiert es die Südseite des Alten Marktes. Bereits im Zeitraum seiner Entstehung, kurz nach 1300, wurde im Erdgeschoss in bis zu 40 Läden Handel getrieben. Manche dieser Läden sind heute wieder in Nutzung wie z. B. von einem Optiker oder der Schokoladerie.
Rund um den gesamten Alten Markt stehen viele beeindruckende Gebäude mit Jahrhunderte langen Geschichten. Jedoch ist keines der benachbarten Bauten für die Hansestadt Stralsund so bedeutsam wie das Rathaus. Hier fanden Hansetage statt, wurde 1370 der Stralsunder Frieden der Hanse mit dem dänischen Königreich geschlossen. Hier war die Wiege des ältesten Museums in unserem Bundesland, ja Norddeutschlands, dem heutigen STRALSUND MUSEUM.
Historische Sanierungen
Sowohl die Schriftquellen als auch die Ergebnisse der Bauforschung belegen, dass der rund 60 mal 30 m große Vierflügelbau mit der imposanten Schaufassade an der Marktseite in seiner über siebenhundertjährigen Geschichte immer wieder baulich ertüchtigt und den jeweiligen Nutzungsansprüchen angepasst wurde. Bereits im Jahre 1579 entstanden die Renaissance-Treppe zu den Verwaltungsräumen sowie ein Kolonnadengang im Innenhof. 1680 wurde nach einem Brand das Schieferdach durch ein Ziegeldach ersetzt, der langgestreckte Rathausdurchgang erhielt den reizvollen barocken Galeriegang. Im 18. Jahrhundert gab man der mittelalterlichen Schaufassade ein damals modernes barockes Aussehen, welches wiederum gut 150 Jahre später wieder in eine neogotische Anmutung rückgebaut wurde.
Auch im Innern wurden umfangreiche Veränderungen vorgenommen. Im Jahre 1881 erfolgte im Löwenschen Saal, welcher am Ende des ersten Drittels des 14. Jahrhunderts errichtet wurde und später seinen Namen von dem schwedischen Generalgouverneur Axel Graf von Löwen erhielt, unter dem damaligen Stadtbaumeister Ernst von Haselberg eine Erneuerung im neugotischen Stil. So hat der Saal unter anderem eine aus Pitchpine (schwere Kiefernhölzer) bestehende Holzdecke erhalten. An der Süd- und Westwand sind in der untersten Schicht Reste der Umgestaltung von 1865 in Form eines grauen, monochromen Anstriches auffindbar. In Anbetracht der Tatsache, dass der Saal schon 1865 mit großformatigen Gemälden bestückt war, erscheint ein monochromer grauer Anstrich als neutraler Hintergrund nicht ungewöhnlich.
Moderne Sanierungen
Bereits in den letzten DDR-Jahren begannen überfällige Erhaltungsmaßnahmen. Umfassend wurde das Rathaus von 1990 bis 2011 in zehn Bauabschnitten saniert. Nicht nur Teile der Fassade und die historischen Gewölbe im Erdgeschoss wurden mit viel Liebe zum Detail unter Beachtung der Denkmalpflege statisch ertüchtigt und repariert, sondern auch der Keller. Der steht seitdem aus bauphysikalischen Gründen ausschließlich für Sonderveranstaltungen zur Verfügung.
Am prächtigen Schaugiebel wurden ebenfalls Reparaturen durchgeführt. Im Nord-Süd-Durchgang restaurierte man einige Bauteile, ebenso die Galerie. Außerdem wurde Anfang der 1990er Jahre ein Glasdach angefügt, das eine permanente Durchfeuchtung der Kellerdecke in diesem Bereich unterbindet.
Bis Anfang der 2000er Jahre waren Teile der Verwaltung im Rathaus untergebracht. Heute befinden sich in den oberen Geschossen des Rathauses Veranstaltungs- und Konferenzräume sowie die Büros des Oberbürgermeisters und der Fraktionen der Bürgerschaft und eines kleinen Teils der Verwaltung.
Im Erdgeschoss können sich Brautpaare das Ja-Wort geben. Für Trauungen stehen hier zwei verschieden große Räume zur Auswahl.
Autor: Lars Drewes, Jugendbauhütte Stralsund