Überlebende des Holocaust Margot Friedländer zu Gast bei Stralsunder Schülern
„Ihr müsst die Zeitzeugen werden, die wir nicht mehr lange sein können.“
Am 17. September kam die Überlebende des Holocaust Margot Friedländer (97) in die Stralsunder Kulturkirche St. Jakobi, um aus ihrem Buch „Versuche dein Leben zu machen – Als Jüdin versteckt in Berlin“ zu lesen. Fast 400 Schülerinnen und Schülern aus sechs Stralsunder Schulen folgten der Einladung von Oberbürgermeister Alexander Badrow und Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sehr gern persönlich dabei gewesen wäre. Sie hatte im Frühjahr den Talisman der Deutschlandstiftung Integration an Margot Friedländer überreicht. Und obwohl Margot Friedländer aufgrund ihres hohen Alters eigentlich nicht mehr reisen wollte, machte sie für Stralsund eine Ausnahme und besuchte die Hansestadt.
Oberbürgermeister Alexander Badrow bedankte sich für die einmalige Möglichkeit und den kostbaren Moment, eine der noch wenigen lebenden Zeitzeugen in Stralsund kennenlernen zu dürfen, und betonte, wie wichtig Begegnungen wie diese seien. Sichtlich bewegt sagte er: "Man sollte sich hüten zu glauben, die Antisemiten von gestern seien gänzlich andere Menschen gewesen als wir. Heute marschieren sie wieder - mit Überschriften wie „Heimatliebe ist kein Verbrechen“. Natürlich ist sie das nicht! Aber wenn Heimatliebe Fremdenhass meint, dann wird deutlich, dass die Vergangenheit noch lange nicht vergangen ist."
Nach der Lesung beantwortete Margot Friedländer viele Fragen - zu ihrer Zeit im Berliner Untergrund, dem Aufenthalt im Konzentrationslager Theresienstadt und warum sie nach über 50 Jahren in den USA wieder zurückgekommen ist. Begleitet wurde sie vom Vorstandsvorsitzenden der Schwarzkopf-Stiftung, André Schmitz-Schwarzkopf, der u. a. auf den Margot-Friedländer-Preis für Schülergruppen aufmerksam machte. Die Stiftung würde sich besonders über eine Stralsunder Teilnahme am Wettbewerb freuen, sagte er am Rande der Veranstaltung.
Das Schlusswort blieb jedoch Margot Friedländer vorbehalten. Eindringlich gab sie den jungen Menschen mit auf den Weg: „So etwas darf nicht noch einmal passieren! Deswegen spreche ich zu Euch. Bitte seid Menschen. Ihr könnt nicht alle lieben, aber bitte respektiert alle Menschen.“ In der riesigen Kirche war es mucksmäuschenstill.
Hintergrund
Margot Friedländer wurde am 5.11.1921 als Margot Bendheim in Berlin geboren. Ihre Eltern trennten sich in den 1930er Jahren und ließen sich 1942 scheiden. Das machte eine Ausreise aus Nazideutschland für Margot Friedländer zusammen mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder praktisch unmöglich, da damals die Zustimmung des Vaters für Ausreisen der Kinder unter 21 Jahren erforderlich war. Am 20. Januar 1943, dem Tag ihrer geplanten Flucht, wurde ihr Bruder von der Gestapo gefangen genommen. Margots Mutter stellte sich daraufhin ebenfalls und überließ die Tochter ihrem Schicksal. Die Spuren der beiden verlieren sich in den Todeslagern von Auschwitz. Alles, was dem jungen Mädchen blieb, war die von Nachbarn übermittelte Botschaft der Mutter: „Versuche dein Leben zu machen“. Und die Handtasche - darin eine Bernsteinkette und das Adressbuch. Beides hatte Margot Friedländer zur Lesung mitgebracht. Von Januar 1943 bis April 1944 lebte Margot Friedländer im Berliner Untergrund und kam bei unterschiedlichen Helferinnen und Helfern unter. Ende April 1944 nahmen sie sogenannte „Judengreifer“ gefangen und deportierten sie ins KZ Theresienstadt. Dort traf sie frühere Bekannte wieder, unter anderem Adolf Friedländer, ihren späteren Mann, mit dem sie nach der Befreiung in die USA emigrierte. Bis heute verfolgen sie die Bilder der Rückkehrer aus Auschwitz. Erst nach dem Tod ihres Mannes begann Margot Friedländer mit dem Schreiben ihrer Geschichte. 2003 kehrte sie erstmals nach Berlin zurück, wo sie seit 2010 wieder dauerhaft lebt und sich gegen das Vergessen der nationalsozialistischen Verbrechen einsetzt. 2011 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz am Bande, 2019 den Talisman der Deutschlandstiftung Integration.